Wachstum ist vor allem ein Marketing-Trick
Wer mit Aktien Geld verdienen will, sollte statt auf Wachstum auf die Bewertung achten. Südeuropäische Länder sind noch relativ günstig. Von Marco Metzler
Bei Börsengängen und Übernahmen werden für Internetfirmen wieder Milliarden bezahlt, obwohl diese oft kaum Umsatz oder Gewinn vorweisen. Gerechtfertigt wird die hohe Bewertung oft mit dem rasanten Wachstum von Nutzerzahlen. Derweil notiert der US-Aktienindex S&P?500 knapp unter Rekordhoch. Doch die Bewertung des US-Marktes liegt weit über dem langjährigen Schnitt. Und auch rund um den Globus werden Aktienmärkte zunehmend teurer. Zu teuer? Nein, sagen die einen und weisen auf die guten Wachstumsaussichten hin. Ja, sagen die anderen und weisen auf die hohen Bewertungen hin. Wer hat recht?
Hohes Wachstum ist ein beliebtes Argument, um Aktien zu verkaufen. Immer wieder hört oder liest man Sätze wie: «Wir bevorzugen Schwellenländer, weil dort das Wachstum höher ist als in Industriestaaten.» Solche Aussagen bringen Joachim Klement, Anlagechef bei Wellershoff & Partner, zur Weissglut: «Ich begegne solchen Sätze an Branchenanlässen immer wieder; dabei sind sie völlig falsch. Es gibt keinerlei Zusammenhang zwischen den Wachstumsraten eines Landes und der Aktienrendite von Firmen», sagt Klement. «Ein gutes Beispiel ist China: Das Land wuchs in den letzten Jahren oft mit bis zu 10% pro Jahr, doch chinesische Aktien warfen kaum Rendite ab», so Klement. Er verweist auf eine Studie des US-Finanzprofessors Jay Ritter, der den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Aktienrendite für grosse Firmen seit 1900 untersucht hat. Das Ergebnis: Weder in Industrie- noch in Schwellenländern gibt es einen Einfluss des Wachstums des Heimatlandes auf die Aktienrenditen der dort ansässigen Firmen. Das Ergebnis widerspricht der Intuition, dass Aktien von Wachstum profitieren. Eine Erklärung könnte sein, dass Weltkonzerne nur einen Bruchteil ihres Umsatzes im Heimatland erzielen.
Doch laut Klement gibt es auch keinerlei Zusammenhang zwischen Aktienrendite und dem Wachstum der Weltwirtschaft. Selbst die Entwicklung von Aktien kleiner und mittlerer Firmen, die stärker lokal verankert sind, zeigen gemäss Klements eigenen Berechnungen keinen Zusammenhang mit dem Wachstum des Heimatlandes. Der Grund: Die Bewertung von Aktien spiegelt das erwartete Wachstum bereits. Dass sich viele von hohem Wachstum blenden lassen, liegt laut Klement daran, dass die Finanzbranche mit ihrer Werbung das Missverständnis über die Jahre gefördert habe. «Die wichtigste Frage - nämlich, ob das Wachstum schon im Kurs eingepreist ist - stellen sich viele Anleger zu selten», sagt Klement überzeugt. Die Firmen der derzeitigen Tech-Blase müssten beispielsweise angesichts ihrer Bewertung riesige Wachstumsraten aufweisen. «Wenn sie ihre Umsätze nicht jedes Jahr verdoppeln, dann haben sie keine Chance, den Aktienkurs zu halten», sagt Klement.
Laut Klement gibt es hingegen einen hohen signifikanten Zusammenhang zwischen Bewertung und Aktienrendite: «Je tiefer das Shiller-KGV, desto höher fallen die Renditen in den folgenden fünf bis zehn Jahren aus», so Klement. Vergleicht man das Shiller-KGV (siehe Box) von Industriestaaten und Schwellenländern, so zeigt sich, dass Aktien der entwickelten Volkswirtschaften deutlich unter dem historischen Durchschnitt liegen, während die Schwellenländer diese Schwelle fast erreicht haben -hohes Wachstum hin oder her.
Je höher die Bewertung, desto mehr Optimismus steckt in den Kursen und umso höher ist die Wahrscheinlichkeit für Enttäuschungen. Das heisst nicht unbedingt, dass es bald zu einem Einbruch kommt. Die Bewertung kann jahrelang über dem historischen Durchschnitt bleiben. Langfristig orientierten Investoren hilft die Kennzahl dennoch, nicht bei allzu hohen Bewertungen einzusteigen.
Wo lässt sich derzeit am ehesten eine Rendite erzielen? «Suchen Sie Märkte, in denen viel Pessimismus drin ist», rät Klement. «Die Euro-Zone ist da am attraktivsten. Günstig bewertet sind vor allem Italien, Spanien und Frankreich.» Für diese Länder waren die Anleger lange zu pessimistisch. Weil sich viele Befürchtungen aber verflüchtigten, gehörten die südeuropäischen Märkte in den letzten zwölf Monaten zu den Gewinnern.
Quelle: NZZ am Sonntag